Pastor persönlich: März 2017 - Tiefen

Meinen letzten Eintrag habe ich mit folgenden Worten beendet:

 „Das Gute und Schöne ist gut und schön. Dass ich glauben darf, dass Gott alles umschließt, das ist für mich ein echtes Geschenk. So darf es 2017 gerne weitergehen!“ So ist es 2017 aber nicht weitergegangen.

An die Höhenflüge schloss sich eine Tiefe an, die leider noch anhält.

Dazu schreibt Enno, mein Sohn – und er ist in Absprache mit mir bisher der Einzige, der als Gastautor bei „Pastor persönlich“ schreiben darf :)  - :

„Manchmal läuft im Leben nicht alles so schön. Es gibt Tiefen! Ich – und auch meine Familie - erlebten Ende Januar einen Schock, an den wir wohl den Rest unseres Lebens denken werden! Ich hatte im Alter von 16 Jahren, vollkommen unerwartet, einen Schlaganfall. Jetzt liege ich mit einer Halbseitenlähmung in einer Rehaklinik. Zuerst war ich zwei Wochen im Akutkrankenhaus!  Wir hatten eine ziemlich intensive Familienzeit während ich noch in Oldenburg im Krankenhaus lag. Jetzt kämpfe ich mich mithilfe von verschiedenen Therapien in der Reha durch. Ich lerne wieder laufen ... .“

Auch mich hat Enno’s Schlaganfall getroffen. Wie ein Schlag. Ein Anfall, Überfall, ein Schlag ins Leben. Das muss mein Sohn, das muss ich mit ihm, das müssen wir nicht haben. Seine linke Seite ist gelähmt. Sein Leben. Und auch unser Leben ist erlahmt.

Gestern vor sechs Wochen ist es passiert. Der Tag ist mir noch präsent, als wäre es gestern gewesen. Und ich kriege die Szenen auch schlecht aus dem Kopf.

Und ich, wir waren nicht einmal zuhause. Gott sei Dank für Salman, der seit zwei Jahren bei uns wohnt! Ohne ihn wäre es viel schlimmer ausgegangen. Oder ganz ausgegangen. Welch’ ein Geschenk, dass mein zweiter ‚Sohn’ bei uns lebt! Welch’ ein Geschenk, dass mein erster Sohn lebt! Familie ist für mich längst keine biologische Angelegenheit mehr. Familie ist über Grenzen, Nationalitäten, Religionen erhaben.

Sorge und Angst waren in den ersten Tagen nach dem Schlag meine Begleiter. Langsam treten sie in den Hintergrund. Erschöpfung und Ausgelaugtsein waren in den ersten drei Wochen ebenso Begleiter. Manchmal schleichen sie sich wieder ein.

Spuren in der Seele: Die Nächte auf Intensiv. Sie waren wirklich intensiv. Für uns. Die Tage und Nächte auf der normalen Station. Nicht weniger intensiv. Ich war krankgeschrieben. Drei Wochen. Nicht wegen Enno. Wegen meiner eigenen Bauch-OP, die nicht wie geplant verlief.
Ich konnte nur schwer laufen. Und dann lief alles schief.
Physisch und psychisch war ich ... welches Adjektiv wähle ich? Welches Wort? Das Wort „Tiefe“ passt. Oder „dunkel“. Oder „Tal“.

Tränen. Leere. Wieder Tränen. Wohin? Nicht: Warum? Die Warumfrage haben wir uns – abgesehen von der medizinischen Frage – wirklich nie gestellt. Die medizinische Frage ist übrigens bis heute ungeklärt. Glaubt man kaum, ist aber so. Die umfassend Warumfrage, .... das ist irgendwie klar. Das ist das Leben. Das ganz normale Leben. Sowas passiert. Da ist weder ein Macht, noch ein Gott, noch ein Schicksal hinter. Weil wir sind, wer wir sind, ist das so. Menschen. Krankheit, Leid, Tiefes gehört zum Menschsein. Es ist nicht so, weil wir so sind, wie wir sind. Weil wir gute (‚wir sollen geprüft werden’) oder schlechte (‚das haben wir davon’) Menschen sind. Solche Deutungen sind für mich sinnlos. Absurd. Unhaltbar. Einem Schlaganfall bei einem kerngesunden 16jährigen kann ich keine Deutung geben.

Und so sitze, liege, stehe ich manchmal da, laufe umher. Ohne Deutung. Manchmal auch ohne Halt. Immer wieder mal Tränen. Und Sorge.

Und dann wieder laufe ich umher und bin ... stolz. Ja, stolz. Ohne Ende! Auf Enno. Ich bin begeistert von meinem Sohn. Es ist wirklich unglaublich, wie er mit der Situation umgeht. Sollte er mir später mal irgendwann einen Doktortitel vorzeigen (was aufgrund seiner genetischen Disposition nicht unbedingt zu erwarten ist J) oder sollte er (erfolg-)reich sein, ich glaube, ich werde nie glücklicher und eben auch stolzer auf ihn sein, als ich es im Moment bin. Ich führe das hier jetzt nicht näher aus. Das wäre dann nicht „Pastor persönlich“ (na ja, vielleicht könnte ich es einen Teil von mir ‚verkaufen’ ....), sondern eher „Enno persönlich“.

Kurz noch zum Stand der Dinge und dann auch nochmal zum Religiösen in dieser Sache:
Seit vier Wochen ist Enno in der Reha in Geesthacht. Die Fahrerei geht auf den Keks, aber die Klinik ist bzgl. der Therapien echt klasse. Das zählt.

Er macht fast täglich Fortschritte – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Rollstuhl ist sein Begleiter. Und der linke Arm und was da noch so dran hängt (Hand eben) darf auch noch nachlegen. Aber da kommt was. Enno braucht Geduld. Er hat sie. Er braucht sie noch Wochen. Monate.

Oft scherzen wir. Und freuen uns auf das Ende. An dem Tag, an dem wir wieder gemeinsam parallel über das Wasser kiten können, werde ich eine Fete am Strand organisieren. Denn dann ist es wieder da: Das Gleichgewicht, die Kraft in den Beinen und Zehen, in den Armen und in den Händen.

In den ersten Tränentäler habe ich trotzig zu mir selbst gesagt: „Na, dann wollen wir mal schauen, ob das stimmt, was du da immer so vollmundig predigst!“ Vorsichtig, noch mit der wiederkehrenden Leere in mir, antworte ich jetzt, sechs Wochen danach: Ja, es stimmt. Gott trägt. Gott tröstet. Gott begleitet. Gerade im Leid. Der weiß, wie es ist, Mensch zu sein. Leidender Mensch. Was für ein Gott!  So einen gibt es nicht noch mal. Na ja, es gibt ja sowieso  nur einen  ;)

Passionszeit. Manchmal ist mir schwarz vor Augen. Aber das Licht des Ostermorgens wird leuchten. Für Enno. Für mich. Für andere.

Beweise habe ich nicht.

Aber ich glaube.

Vertraue Jesus Christus.

‚Nun aber ist Christus auferstanden als Erster ...’ 1.Kor.15