Zum 31.10.2016/ Reformationstag

Die Wiederentdeckung des Evangeliums auf dem Hintergrund der Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ war für Martin Luther  lebensverändernd. Beim Studium des Römerbriefes entdeckte er den „gnädigen Gott“ für sich persönlich.

Die Frage nach dem gnädigen Gott ist  heute ganz sicher nicht die Frage, die meine Mitmenschen bewegt. Und sie lesen weder den Römerbrief noch andere Bibeltexte. Ihr Welt- und Lebensbild ist ein komplett anderes als das des mit Gott ringenden Mönches  zu Beginn des 16.Jahrhunderts.

Wenn überhaupt nach Gott gefragt wird, dann begegnen mir in Gesprächen vor allem zwei Themenbereiche.
Immer wieder wird die Theodizeefrage gestellt: „Warum lässt Gott das Leid zu? Warum ist das Leben zu mir, zu anderen Menschen so ungnädig?“

Des Weiteren höre ich häufig die geradezu dogmatisch formulierte

Aussage, dass jeder an den Gott glauben kann, an den er will, solange er damit niemanden bedrängt oder missionieren will. Und: „Es glauben doch alle an denselben Gott!“

Nach Gott - und schon gar nicht nach dem gnädigen Gott – fragen meine Mitmenschen nicht. Und wenn es einen Gott geben sollte, dann ist es irgendwie ganz selbstverständlich, dass er gnädig, lieb und gütig ist.

Fragen nach Gott werden selten gestellt. Fragen nach dem Leben umso häufiger.

Fragen nach gelingendem Leben. Nicht unbedingt explizit auch Fragen nach einem „gnädigen“ Leben“. Nach Halt und Geborgenheit in einem Alltag, der rastlos und unbeständig ist. Fragen brechen oft dann auf, wenn Veränderungen, Krankheiten, Sorgen oder Beziehungsprobleme das Leben aus der bisherigen, vielleicht sicher geglaubten Bahn werfen.

Martin Luther wurde als junger Mann auch aus der Bahn geworfen. Der plötzliche Tod eines Freundes und eine eigene Verletzung, an der er fast gestorben wäre, erschütterten sein Leben. Quälende Ängste vor dem Jüngsten Gericht trieben ihn um. Als er im Juli 1505 von einem Blitz zu Boden geschleudert wurde, halfen keine elterlichen oder eigenen Lebensentwürfe mehr. Mit dem Gelübde „Ich will ein Mönch werden!" legte er neue Gleise für sein Leben.

Es sind die kleinen und großen ‚Blitzschläge’ oder Erkenntnisblitze, die auch heute Menschen dazu führen, das Evangelium erstmals oder neu zu entdecken.

Viele Menschen ringen zwar nicht um einen gnädigen Gott, sie sehnen sich aber nach einem gelingenden Leben, das gnädig mit ihnen ist, ganz gleich, was sie schaffen und leisten.

In Römer 8 beschreibt der Apostel Paulus das Leben und die Lebensweise von Menschen, die ihr Leben aus eigener Kraft sinngebend gestalten wollen. Heute würde er vielleicht formulieren, dass viele Menschen versuchen, der Garant ihres eigenen Lebens zu sein. Sie stehen unter dem Zwang, sich selbst zu optimieren, sich zu bezeugen und zu zeigen. Sinn und Inhalt für ihr Leben versuchen sie aus sich selbst heraus zu schaffen. Glaubensbekenntnisse der Leistungsgesellschaft werden tagtäglich millionenfach gebetet und tatkräftig umgesetzt. Man möchte oder man muss sein Bestes geben, um  Schönes zu schaffen, um Erfolg zu haben, Anerkennung zu ernten und ein gelingendes Leben zu erreichen. Alle Kraft und alle Inhalte dafür scheint der Mensch in sich selbst zu finden.

Gegen Leistung und Erfolg an sich ist nichts einzuwenden. Wenn Leistung  und Erfolg zum Credo nicht nur der Gesellschaft, sondern des Einzelnen werden, dann ist zu fragen, ob es sich dabei nicht doch um etwas Ähnliches wie zu Luthers Zeiten handelt. Mit ‚Werken’ wird auch niemand dem Leben gerecht. Nicht nur gegenüber Gott kann und muss man einsehen und eingestehen, dass Werke keinen Bestand haben. Auch gegenüber sich selbst und seinen eigenen Lebensentwürfen.

Dabei geht es in keiner Weise um Miesmacherei. Wer glücklich und zufrieden ist, dem sollte nicht das Gegenteil eingeredet werden.
Aber jeder Mensch, ganz gleich, wie glücklich und erfolgreich er ist oder wie schwer und mühsam sein Leben auch ist,  kommt wohl irgendwann einmal zu der Frage zur Sinnfrage: „Was soll das Ganze?“. Spätestens wenn man das Leben einmal mit Abstand oder vor dem Tor des Todes betrachtet, aber auch, wenn man nur eine Momentaufnahme des Lebens ehrlich in den Blick nimmt, so muss man sich, bei allem Guten, Erfolgreichen, Gelungenem, das man geschafft hat, wohl auch eingestehen, dass es Schattenseiten, Schweres und Misslungenes gibt.

Irgendwann kommen wohl alle Menschen zu der Erkenntnis, dass im Leben nicht alles gelingt, dass kein Sinn und auch kein tragender Grund fürs Leben aus der eigenen Person hervorgebracht oder abgeleitet werden kann. Menschen müssen dazu nicht an sich oder am Leben verzweifeln, wie Luther es in These 18  der Heidelberger Disputation von 1518 formulierte: „Es ist sicher, dass der Mensch gründlich an sich zweifeln muß, um dazu geeignet zu werden, die Gnade Christi zu erlangen.“

Gründlich zweifeln oder zaghaft nach dem Leben fragen – beides führt früher oder später wohl zur Einsicht, dass der Mensch sein Leben nicht wirklich in der Hand hat.

Das ‚gründliche Zweifeln’ des Menschen fasst der katholische Theologe Otto Hermann Pesch in folgende Worte: „Bei Lichte betrachtet merkt man, dass etwas falsch ist mit dem Menschen! Und man fragt sich: ‚Ist der Mensch ‚richtig’?“ Die Antwort, so Pesch, müsse einem von außen gesagt werden, von einem, der dem Leben und dem Tod, dem Gelingenden und dem Misslingenden, überlegen ist.

Eine Antwort also, die auch der Theodizeefrage nicht ausweicht.

Mensch, wie findest du ein „gnädiges“ Leben? Wie kommst du zurecht mit den offenen Fragen deines Lebens und der Welt? Wenn jemand sich diese Fragen stellt – und sie ihm nicht aufgedrängt werden - , dann sehnt und sucht er eine Antwort darauf vielleicht eben so engagiert und intensiv wie der Mönch vor 500 Jahren.

Die Antwort kann heute wie damals nur von außen gesagt werden. Sie kommt von dem einen Gott, der sich durch die Antwort als der Einzige, Unvergleichliche und Wahre offenbart: „Mensch, du bist geliebt! Du bist gehalten. Getragen. Du brauchst keine Angst vor dem Leben zu haben. Du brauchst das Leben nicht aus dir selbst zu gewinnen! Du bist geliebt, getragen, ohne etwa zu tun.“

Oder um es mit These 28 der Heidelberger Disputation zu formulieren:
„Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft, was ihr liebenswert ist.“
Wenn das Evangelium unsere Ohren und unser Herz erreicht, dann werden wir das Glückliche, Gelingende, Gute nicht mehr uns selbst zuschreiben. Es ist Geschenk.

Am Schweren, Schlechten und Misslingenden werden wir nicht  verzweifeln. „Gott ist mit uns!“, sagt Jesus, der selbst das Schwerste erlebt hat.

Bei Gott, der uns beschenkt und der mit uns ist, sind wir ‚richtig’.