'Mir wird nichts mangeln' oder 'Die sanfte Liebe'

 

Bei einem Spaziergang durch Hamburg blieb vor einiger Zeit mein Blick an einer kleinen Informationstafel eines asiatischen Restaurants hängen: „Wir geben jeden Tag gebratenen Reis mit Hühnerfleisch an Obdachlose. Bitte bedienen sie sich!“ In kleiner Schrift stand darunter: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!“.

Drei Wochen später saß ich mit Herrn Shin-Won Kang in einem Cafe in Hamburg. Ich hatte Kontakt zu ihm aufgenommen, um zu erfahren, was sich hinter diesem Schild verbirgt. Ich lernte einen ruhigen, liebenswerten und offenen Mitchristen kennen, der ebenso wie ich 1964 geboren wurde, dessen Lebensgeschichte aber so ganz anders verlief als meine eigene.

Shin-Won ist in Südkoreas Hauptstadt Seoul aufgewachsen. Als Kind erlebte er Armut und Hunger und saß mit 100 anderen Kindern in einer Schulklasse. Wie für viele Südkoreaner war Bildung auch das höchste Gut, das Shin-Won’s Mutter ihren Kindern zukommen lassen wollte.

„Bildung ist uns wichtiger als Geld!“ sagt er mir.  Die Bildungschancen für arme Kinder waren in den 60iger- und 70iger Jahren in Südkorea jedoch dermaßen schlecht, dass die Mutter nur einen Ausweg für sich und ihre Kinder wusste: Ende der 70iger Jahre wanderte sie mit ihren Kindern nach Deutschland aus.

In Hamburg angekommen, schickte die Mutter ihre Kinder auf eine katholische Schule. Shin-Won tat sich etwas schwer mit der Schule. Eine Nonne kümmerte sich in ihrer Freizeit um ihn, gab ihm Nachhilfe und sorgte dafür, dass auch er einen Schulabschluss erhielt. „Manchmal

übernachtete ich dann auch bei dieser Nonne und bekam mit, wie sie morgens um halb fünf aufstand, in der Bibel las, betete und dann Brote für die Obdachlosen auf der Reeperbahn schmierte. Das hat mich sehr beeindruckt.“ Als die Nonne ihren Zögling zum Studium der Umwelttechnik nach Berlin verabschiedete,  gab sie ihm einen Bibelvers mit auf den Weg: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!“

Im Laufe seines weiteren Lebens wurde dieser bekannte Bibelvers zum Lieblingsspruch Shin-Wons: „Ich habe gerade mal so von Bafög gelebt. Der Spruch hat mich auch durch das Studium begleitet. Wenn man diesen Spruch in einer schweren Situation liest, dann muss man weinen. Als Koreaner weint man aber nicht. Dieser Vers hat mich immer getröstet!“


In der Berliner Unimensa  kam eines Tages ein ihm unbekannter  südkoreanischer Mitstudent bescheiden auf ihn zu, gab ihm eine Bibel und bat ihn darum, diese zu lesen.

„Das hat mich als Südkoreaner sehr beeindruckt. Unsere Kultur lehrt uns Bescheidenheit. Auch in religiösen Dingen sind wir nicht so direkt, eher ‚blumig’. Klugen Menschen, die einem bescheiden und höflich begegnen, kann man einfach keine Bitte ausschlagen“, so Shin-Won, der anschließend zur Bibel griff und dann für sich feststellte: „Jesus nicht irgend eine Geschichte ist, sondern die Liebe!“

Shin-Won war als Kind katholisch getauft worden, „aber das Herz war nicht dabei. Ohne diese Begegnung wäre es mit dem Glauben bei mir nichts geworden!“.

„Bald schon stellte ich fest,“ erzählt mir der heute 50ig-Jährige mit einem Schmunzeln,  „dass überall dort, wo Chinesen sind, Chinarestaurants entstehen und dass überall dort, wo Koreaner sind, christliche Gemeinden entstehen!“

1994 wollte Shin-Won in Berlin promovieren. Die familiären Entwicklungen sorgten jedoch für einen anderen Lebensweg. Seine geschäftstüchtige Mutter hatte im Hamburger Schanzenviertel erfolgreich drei Restaurants aufgebaut und betrieben. Als seine Mutter starb, übernahm er die Geschäftsführung der Restaurants, modernisierte sie und baute das Geschäft aus. Heute betreibt Shin-Won im Hamburger Stadtgebiet fünf Filialen und einen Lieferservice. Er wirbt mit dem Slogan: Einfach. Gesund. Anders.

Als Mitglied der koreanischen Gemeinde, die sich bis vor einigen Jahren in einer Baptistengemeinde in Hamburg traf und jetzt am Hamburger Hafen beheimatet ist, engagiert er sich in besonderer Weise für missionarische Anliegen: „Wir machen das auf unsere südkoreanische Weise und so, wie ich es von der Nonnen gelernt habe. Nicht mit starken Worten oder aufdringlichen Taten. Eher der Kultur der Chinesen, Japaner und eben Koreaner entsprechend mit Zurückhaltung. Die Liebe ist sanfter als der Drang zu missionieren .“

Unkonkret bleibt der sympathische Mann deswegen nicht. Als Missionsleiter der 150 Mitglieder zählenden Gemeinde, die sich überwiegend aus koreanischen Geschäftsleuten und Studenten zusammen setzt, sorgt er für Projekte in der Türkei, Bulgarien und Kenia.

Natürlich wollte ich auch wissen, wie er auf die Idee mit der Obdachlosenspeisung gekommen ist.

„Das ist im besten Sinne auch ein Resultat meiner Herkunft. Der Konfuzianismus hat mich gelehrt, dass Teilen einfach zum Leben gehört.

Das ist nichts Besonderes, gemeinsam am Tisch zu sitzen, zu essen und zu teilen. Heute ist das für viele Koreaner leider auch nicht mehr selbstverständlich. Wir sind so rational geworden, das Emotionale hat abgenommen, klug und schlau sein steht im Vordergrund und das Einfache, ich sage einmal ‚Bäuerliche’ hat abgenommen.“

Shin-Won erzählte mir längere Zeit aus seinem Leben. Seine drei Kinder haben alle Abitur gemacht, es geht im familiär und wirtschaftlich gut. Da konnte er, so schilderte er mir,  seine Dankbarkeit einfach nicht unterdrücken.

„Ich habe Reis, ich habe Hühnerfleisch  und ich habe Köche. Da lag es einfach nahe, Essen auszugeben. Blumen verschenken wäre bei meinen Geschäften unpassend gewesen!“, erzählt der Geschäftsmann mit strahlenden Augen. 2010 begann er mit der kostenlosen Essensausgabe probeweise für einen Monat. Heute werden in seinen Filialen um die 100 Essen täglich verteilt. Er hat Freundschaften mit Obdachlosen  geschlossen und „auch bei meinen Angestellten hat es nach einem Lernprozess irgendwann ‚klick’ gemacht, so dass sie nicht nur die zusätzliche Arbeit sehen! Solange du in der Lage bist zu geben, sei froh! Das Geben tut auch meiner Seele gut, ich profitiere am meisten davon!“

Ich habe viel gelernt von Shin-Won. Und er hat mich nachhaltig beeindruckt. Jedes Mal, wenn ich an einem asiatischen Imbiss vorbeilaufe, denke ich an ihn. Und an Psalm 23. Und daran, dass die Liebe sanfter ist als der Drang zu missionieren.