Der Wettermacher

Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns hinüberfahren. Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm. Und es erhob sich ein großer Windwirbel und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde. Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig und verstumme! Und der Wind legte sich und es entstand eine große Stille. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? Sie aber fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam!


Die Geschichte von der Stillung des Sturms durch Jesus könnte dazu führen, dass man Jesus als „Der Wettermacher“ bezeichnet. Einerseits wäre das treffend, da der Evangelist Markus berichtet, dass Jesus den Sturm gestillt hat – einfach so, durch ein paar meteorologisch nicht nachvollziehbare Worte -  , andererseits wäre das auch nicht ganz zutreffend. Oder zumindest wäre mit „Der Wettermacher“ nicht ausreichend beschrieben, wer Jesus ist. Er ist viel mehr als „Der Wettermacher“. „Der Wettermacher“, das würde Jesus auf einer nur äußerlichen, vielleicht kurzfristig bewundernswerten Ebene beschreiben. Deutschland sucht den Super-Meteorologen. Alle staunen, alle klatschen und schon ist er wieder aus dem Rampenlicht.
Schaut man sich die Geschichte von der Sturmstillung einmal im Zusammenhang des Markus-Evangeliums an, dann fällt auf, dass sie mit

„Am Abend desselben Tages“ beginnt.
Dieser Tag war bisher ein Tag voller Theorie gewesen. Nachdem Jesus zwölf Jünger berufen hatte, Stress mit den religiösen Führen seiner Zeit gehabt hatte und klar gemacht hatte, wer hier eigentlich wirklich mit ihm „verwandt“ ist, gab es für die ersten Jünger eine dicke Theorieeinheit. Sozusagen Blockunterricht in Sachen Reich Gottes: In Markus 4 finden wir ein Gleichnis nach dem anderen, das es mit dem reich Gottes zu tun hat (Gleichnis vom Sämann, Deutung des Gleichnisses, Gleichnis vom Wachsen des Saat, Gleichnis vom Senfkorn). Am Ende der Theorieeinheit heißt es dann: „Und ohne Gleichnisse redete er nicht zu ihnen.“
Nach so viel Theorie war dann erstmal Feierabend. Ab ins Boot. Über den See. Vielleicht irgendwo hin, wo man seinen brummenden Kopf auf einen Strohballen legen und tief schlafen konnte.

Jesus tat das schon mal. Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Hätten die Jünger vielleicht auch gerne gemacht. Die mussten aber rudern oder Segel setzen. Das Wetter war nämlich alles andere als zum Schlafen. „Wellen schlugen in das Boot!“ Für Jesus vielleicht nette Schunkelbewegungen, die ihn an die Bewegungen im Schwangerschaftsbauch der Maria erinnerten und ihn tief und fest schliefen ließen. Für die Jünger aber Grund zur Frage, nachdem sie den Schläfer aufgeweckt hatten: „Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen?“ Nein, er hatte offensichtlich nur Schlaf in den Augen und anscheinend keinen Augen-Blick für seine Leute.
Nach einem Tag voller Theorie folgte eine praktische Glaubens-Einheit. Erfahrbar und spürbar am eigenen Leib. Keine Gleichnisse mehr, sondern reales Leben, an dem es nichts zu deuteln gibt. Todesangst. Da hilft kein Gleichnis. Da hilft kein frommer Spruch. Und den macht Jesus auch nicht.
An dieser Geschichte wird deutlich, dass die ersten Jünger das erlebt haben, was Christinnen und Christen aller Generationen nach ihnen auch erlebt haben. In der Nachfolge Jesu ist das Leben nicht harmlos. Das Christen-Leben ist nicht spiegelglatt, einfach so zum Dahinrudern.
„Interessiert Du dich gar nicht für uns?“, „Ist dir egal, was mit mir passiert?“, „Hast Du nicht irgend eine lebensrettende Maßnahme für mich zur Hand?“, „Jesus, kannst Du es mir nicht ein bisschen netter machen, mir helfen, dafür sorgen, dass ich als dein Nachfolger etwas oder sogar sehr viel komfortabler lebe?“
Manche Christen stehen in der Gefahr, aus dem christlichen Glauben eine religiöse Verplüschung ihres Lebens zu machen. Am besten noch: An Jesus glauben bringt Gesundheit, wirtschaftlichen Erfolg, die richtige Frau, den richtigen Mann an meine Seite. „Jesus, Du machst mir doch das Leben schön, oder?“

Millionen Christen dieser Welt machen andere Erfahrungen. Nichts mit Sturmstillung. Nichts mit Gesundheit. Nichts mit wirtschaftlichem Wohlergehen. Ihre Praxis-Erfahrungen zeigen, dass es in der Nachfolge Jesu um mehr geht als um den „Wettermacher“, um mehr als um Sturmstillung.

Und auch die Jünger im Boot schnallen Stück für Stück, dass die Theorie des Tages, die Theorie vom Reich Gottes auch ihr Leben bestimmen soll.

Es geht gar nicht um ihr kleines Leben. Das steht nicht im Mittelpunkt. So wünschenswert, wie Überleben und Gesundheit ist. In seinen Gleichnissen hatte Jesus tagsüber deutlich gemacht, dass es um das reich Gottes geht. Glücklicherweise hat der Evangelistenkollege Matthäus das Vaterunser überliefert. Da lehrt Jesus seine Leute beten: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe.“ Und nicht: „Unser Vater im Himmel. Geheiligt werde dein Name, wenn du unser netter Wettermacher bist und für Sonnenschein im Leben sorgst!“

Das scheint also eine Grunderfahrung von Christen zu sein: man fühlt sich hängen gelassen, auch von Gott/ Jesus verlassen. Das ändert aber noch nichts an der Existenz Gottes. Im Glauben geht es eben um mehr als um meine eigene Befindlichkeit.
Dann aber doch:

„Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig und verstumme!“ Jesus greift ein. Meteorologisch nicht zu erklären. Die Bibel will das auch gar nicht wissenschaftliche erklären. Sie ist weder ein Physik-, noch ein Bio-, noch ein fachkundliches Buch über Meteorologie. Sie ist ein Buch, welches Glauben wecken und fördern will.

Und deswegen berichtet Markus, dass Jesus „sprach“. Er „sprach“ und alles wurde glatt. Spiegelglatt. Bestens. Das Wort „sprechen“ erinnert an dieser Stelle an das göttliche „Sprechen“ aus der Schöpfungsgeschichte.

„Und Gott sprach“ und es wurde. Wenn Jesus auftritt, das soll hier wohl deutlich werden, dann ist Gott selbst, der Schöpfer, am Werk. Jesus und Gott gehören zusammen. Jesus ist Gott. Deswegen: Keine Sorge, es wird schon alles gut, denn Gott hat seine Leute noch nie hängen lassen.
Wenn Jesu spricht, dann passiert etwas.
Darauf kann man sich verlassen. Er ist eben nicht nur ein Seemann oder Gleichniserzähler.
Und auch das haben Christinnen und Christen aller Generationen erlebt: Das Wort Gottes, das „Sprechen Gottes“, das hat Bestand.

Und wie, was spricht Jesus?
Zum einen klar und deutlich, „bedrohend“ steht im Text. Gegenüber den Naturgewalten, so scheint es, wird hier klargestellt, wer der Chef ist.

Und dann spricht Jesus zu seinen Jüngern: „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“

Nun hat Jesus den ganzen Tag ein Gleichnis nach dem anderen erzählt, hat die Grundlagen der Glaubens-Theorie gelegt und die Jungs haben es noch immer nicht kapiert. Die Worte Jesu an seine Jünger, sie sind aber nicht „bedrohlich“. Die sind auch nicht heftig, vorwurfsvoll oder moralisierend formuliert oder ausgesprochen. Nein, es ist, als ob Jesus an dieser stelle einen seelsorgerlichen, verständnisvollen, einfühlsamen Ton anschlägt. „Och Mensch, habt ihr es noch immer nicht geschnackelt? Ihr seid ja auch ein bisschen begriffsstutzig in Glaubensdingen?“
Jesus macht seine Leute nie fertig. Er rechnet nie mit ihnen ab. Er moralisiert nicht. Es ist eher ein „So viel Theorie und kaum wird es praktisch, macht ihr euch in die Hose!“ Das aber nicht als Vorwurf, sondern eher als verständnisvolle Feststellung.
Jesus allein als den Wettermacher zu bezeichnen, das wäre also viel zu wenig. Jesus möchte Glauben vermitteln. Er möchte zum Vertrauen zu Gott einladen. Er möchte viel mehr erreichen als spiegelglatte See oder ein spiegelglattes Leben. Jesus geht es um das Reich Gottes. Man kann und soll Gott vertrauen, dass er den Horizont schon im Blick hat.
„Die Jünger aber fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam!“

Jesus will Glauben wecken – und die Jünger bekommen Angst. Verkehrte Welt in dieser biblischen Geschichte.
Vermutlich haben sie sich gefürchtet, weil sie Jesus in erster Linie als den „Wettermacher“ gesehen haben. Sie haben nicht hinter die Kulisse geschaut. Das vordergründige Erleben haben sie nicht in Verbindung gebracht mit der Theorie des Tages oder mit dem Schöpfungswort des Meisters an Bord.
Christen, die den Glauben auf der Ebene des „Wetters“ abhandeln, Christen, die Jesus hauptsächlich oder nur als „Wettermacher für ihr eigenes Leben“ ansehen, die fürchten sich auch heute noch. Die haben vor allem und jedem Angst. Die sehen hinter jeder Hecke ein Teufelchen und in jeder Wolke am Himmel einen Sturm. Die fürchten sich vor der „bösen, stürmischen Welt!“

Das brauchen Christen aber nicht. Jesus hat da einen guten Rat: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere zufallen!“